Lothar Kliesch

Die Ergebnisse der PISA-Studie und ihre Auswirkungen und die Bildungspolitik im Land Brandenburg

Rede in der Aktuellen Stunde zum Thema: Die Ergebnisse der PISA-Studie und ihre Auswirkungen und die Bildungspolitik im Land Brandenburg am 24.01.02

Kliesch (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor mir haben hier nur Bildungspolitiker gesprochen. Ich möchte betonen, dass ich Mitglied des Wirtschaftsausschusses des Landtags bin.

Die PISA-Studie bedeutet insbesondere für ein Industrieland wie Deutschland einen gravierenden Einschnitt. Wenn wir weiterhin so in die Zukunft schauen, wie wir das zurzeit tun, dann kann uns nicht wohl sein. Es ist so, dass nicht nur die Gesellschaft ein Problem hat, sondern dass auch 10 bis 20 der Schülerinnen und Schüler ein großes Problem haben. Sie nehmen an dem wirtschaftlichen Erfolg, der sich in unserer Wohlstandsgesellschaft abzeichnet oder den es in dieser Gesellschaft gibt, nämlich nicht teil.

Von der Geburt bis zur Berufsausbildung gibt es hier Verlierer. Sie durchlaufen das ganze Schulsystem. Ihre Namen sind bekannt. Man sollte sie wirklich auffordern: Lest die PISA-Studie, lasst euch das nicht gefallen, fordert von der Politik mehr als das, was bisher anhand dieser Studie diskutiert worden ist!

In der Presse kann man dazu ebenfalls einiges lesen. Da heißt es zum Beispiel: In keinem der anderen Länder, die an dem PISA-Test teilgenommen haben, sind die Unterschiede zwischen guten und schlechten Schülerleistungen so groß wie in Deutschland. Es ist ein sozialpolitischer Skandal in Deutschland, dass Schülerinnen und Schüler aus unteren sozialen Schichten in unserem Schulsystem fast keine Chance haben.

(Beifall bei der PDS)

In Deutschland fließt das Geld dorthin, wo die sozial Privilegierten ihre Kinder unterbringen, nämlich hauptsächlich in die Gymnasien. Wir sortieren die Kinder zu früh. Das ist ein ganz klarer Satz, den jeder Fachmann verstehen kann.

(Beifall bei der PDS)

Bei den laut PISA erfolgreichen Bildungssystemen kann man feststellen, dass man, wenn überhaupt, Schüler nach Leistungen in Fachgebieten sortieren sollte. Flexibilität und Durchlässigkeit sollten die Schlagworte bei der Schulreformdiskussion sein. Aber wir reden über Kita, reden da mal ein bisschen und dort ein bisschen und sehen gar nicht, dass sämtliche Schulsysteme der deutschen Bundesländer hoch selektiv arbeiten. Sie geben das Signal: Wenn du gute Chancen hast, dann führt dein Weg ganz schnell nach oben. Deine Eltern sind die Basis dafür. Damit geben sie dem verbleibenden Drittel der Gesellschaft allerdings die Mitteilung: Aufgrund deiner Herkunft, deiner Geburt, der Bildung deiner Eltern hast du hier keine Chance. Auch wenn sich die Lehrer wirklich bemühen - wir können die Kollegen tatsächlich loben -, das nicht so zu handhaben, ist es jedoch so, dass die Gesellschaft die Signale gibt.

PISA sagt uns und hält uns den Spiegel vor: Das ist wirklich so. Ihr könnt euch da in Deutschland nicht verstecken. Seit Mitte der 90er Jahre gibt es Konzepte, die deutlich machen, dass ein solches Schulsystem in einem Industrieland nicht aufrechterhalten werden sollte. Ein solches Schulsystem ist grundsätzlich ungerecht und zerstört die Sozialstruktur dieser Gesellschaft.

(Beifall bei der PDS und vereinzelt bei der SPD)

Bisher haben wir dies alles negiert. Das hat mit dem Wahlzyklus von ungefähr vier Jahren zu tun. Jedes Mal, wenn eine Partei die Frage aufwirft, ob die Schüler für eine längere Zeit gemeinsam die Schule besuchen sollten, bekommt sie um die Ohren gewatscht, dass das 68er-Ideen seien. Übrigens hat Finnland sein Schulsystem gerade 1968 umgestellt, Dänemark schon vorher, und zwar sehr erfolgreich, nachdem es vorher jahrzehntelang ein anderes System gab. Des Weiteren wird der Partei um die Ohren gewatscht, der eine mache dies und der andere mache dann wieder jenes. Aus der Richtung der CDU kommt dann meist noch der Hinweis - meine Kollegen aus jener Fraktion mögen mir das bitte nicht übel nehmen -, wir hätten doch das beste Schulsystem. PISA besagt dagegen, dass unser Schulsystem sehr ungerecht sei und dass die Leistung dort auch nicht stimme. Die Schlussfolgerung daraus müsste eigentlich ganz eindeutig sein, dass eine längere gemeinsame Schulzeit festgelegt wird.

(Beifall bei der PDS)

Dies müsste das gemeinsame Ziel sein, und zwar auch unter Berücksichtigung der Initiativen der verschiedenen Parteien, angefangen von solchen für die Grundschule bis hin zu solchen für die Sekundarstufe II. Dann könnten in Deutschland alle eine Chance haben, nicht nur die Kinder von Mittelschichteltern, die bei den Wahlen die Mehrheiten sichern. Aber genau das ist das Problem. Das bekommen wir nicht hin. Diejenigen die jetzt skeptisch schauen, sollten einmal die Diskussionen über die Grundschulreform im Jahr 1920 nachlesen. Da gab es ähnliche Diskussionen.

Wir sind bis heute nicht weiter gekommen. Die wenigen Gesamtschulen, die es beispielsweise in Brandenburg oder in Nordrhein-Westfalen gibt, sind nicht die Reform, die wir brauchen. Wir brauchen eine Reform, mit der das Ziel verfolgt wird, dass alle Kinder eine Chancehaben und dass insbesondere die zu fördern sind, deren Chancen von Hause aus nicht so günstig sind.

(Beifall bei der PDS und vereinzelt bei der SPD)

Wenn man das versteht, dann versteht man auch, warum die deutsche Industrie auf einem Symposium vor einem Jahr in Berlin deutliche Signale an die Adresse der Bildungspolitik in die Richtung gegeben hat, dass es nicht zugelassen werden sollte, dass im Durchschnitt circa 15 % der Kinder Totalversager sind, und zwar sowohl in der Schule als auch im Berufsbildungssystem. Diese Jugendlichen brauchen wir als hoch motivierte Arbeitskräfte. In einem Industrieland gibt es keine Arbeitsplätze für Ungebildete in dieser großen Zahl.

(Zurufe von der CDU)

Diejenigen, die jetzt hier Zurufe machen, müssen sich einmal die Frage stellen, warum es möglich ist, dass 95 der Kinder in Finnland zwölf Jahre lang gemeinsam die Schule besuchen, ohne dabei Schaden zu nehmen. Finnische Kinder haben in der PISA-Studie sogar erfolgreicher abgeschnitten als unsere Kinder hier. Warum ist das auch in Dänemark der Fall, wo es 80 der Kinder sind, oder in Schweden mit 75 %? Warum wirken sich die sozialen Unterschiede in der späteren Bildungskarriere zum Beispiel auch in den USA nicht so gravierend aus wie in Deutschland? Die USA werden ja in vielen Diskussionen als gutes Beispiel angeführt.

(Zurufe von der CDU)

Meine Damen und Herren, Sie sollten einfach einmal darüber nachdenken, ob es nicht vernünftig wäre, diese Grabendiskussion zu beenden. Mir wird in Diskussionen immer vorgeworfen, wir seien Ideologen. Ich bin aber gar kein Ideologe, sondern ich möchte nur, dass es sozial gerecht zugeht.

(Beifall bei SPD und PDS)

Die großen Parteien in Deutschland sollten sich dieser Grundsatzforderung anschließen. PISA ist ein deutliches Zeichen dafür, dass es hier ungerecht zugeht. Wer darüber hinweggeht, lügt sich selbst etwas in die Tasche.

(Zurufe von der CDU)

Vielleicht gelingt es ja noch, dass wir uns gemeinsam um die Grundschulkinder in unserem Ort kümmern. Dann gibt es insoweit dort die besten Bedingungen. Wenn das eigene Kind aber zum Gymnasium geht, dann geht das Interesse an der Grundschule vor Ort verloren. Das ist das Problem, das ich als Bürgermeister sehe. Die Kinder der Mehrzahl der wohlhabenden und gebildeten Eltern besuchen das Gymnasium. Dort kann man dann übrigens von Lehrern Sätze hören wie: Wir haben hier viel zu viele Gymnasiasten. Die Mehrzahl gehört gar nicht hierher. Wie wirkt das auf die betreffenden Schüler, wenn sie das jeden Tag hören? Die bemühen sich, sie schaffen das Niveau so gerade, aber sie wollen erfolgreich sein. Sie spüren aber, dass sie an dieser Schule gar nicht gemocht werden, weil sie durch die Sozialauslese verfolgt werden, wobei man natürlich hinzufügen muss, dass ein Teil der Schüler wirklich nicht begabt ist.

Meine Damen und Herren, vielleicht können wir uns auf Folgendes einigen: Im Durchschnitt werden 50 der geistigen Leistungsfähigkeit vererbt und 50 werden im Zuge der Sozialisierung erworben. Das gilt für wohlhabende und gebildete Eltern und deren Kindern genauso wie für sozial schwache Eltern und deren Kinder. Es kann ja nicht sein, dass hier plötzlich Erbmechanismen nur deshalb wirken, weil die Eltern mehr Geld haben. Dann müssen wir doch anerkennen, dass auch bei Kindern sozial schwacher Eltern - ich will das jetzt gar nicht weiter definieren oder Prozesse nennen, die hier relevant sein können; das muss man auch hier sehr differenziert betrachten -50 % der geistigen Leistungsfähigkeit durch die von uns vermittelte Sozialisierung erreicht werden.

(Vereinzelt Beifall bei SPD, CDU und PDS)

Wir Politiker müssen die Schule so organisieren, dass die Schüler mit ihren Defiziten leben können, das heißt, dass diese Defizite nicht bis in die Berufsbildung hineingetragen werden. Die rote Lampe hier vor mir leuchtet und deshalb lassen Sie mich nur noch eine Abschlussbemerkung machen. Eines hat mich als Lehrer immer besonders geärgert, nämlich wenn ich im Lehrerzimmer war und es dort hieß: Der kleine Fritz hier ist genauso dumm wie seine Mutter und sein Vater. Aus dem wird nie etwas. Wenn wir so etwas nicht abstellen und so etwas in der Gesellschaft nicht aufhört, dann werden wir in Deutschland niemals eine sozial engagierte Gesellschaft erreichen können. Danke sehr.

(Beifall bei SPD, CDU und PDS)